Regale voller eingekochter Lebensmittel, darunter Hülsenfrüchte, Brühe und Fleisch

Selbstversorgung braucht Eiweiß – und Ehrlichkeit:

Warum Tiere (noch) Teil der Lösung sind

Wenn wir über Selbstversorgung sprechen, denken viele an Tomaten, Kürbisse und Kartoffeln. Vielleicht auch an selbst gebackenes Brot oder den kleinen Kräutergarten am Fensterbrett. Doch wer wirklich versucht, sich über weite Teile des Jahres selbst zu versorgen, stößt früher oder später auf eine unbequeme Frage: Woher kommt das Eiweiß?

In den letzten Jahren haben wir alle zu spüren begonnen, wie fragil unsere Gesellschaft ist und wie leicht unsere Lebensmittelversorgung ins Wanken gerät. In der heutigen Zeit, in der Lieferketten wanken und globale Handelswege instabiler werden, wird diese Frage politisch. Denn Eiweiß ist nicht nur irgendein Nährstoff – es ist die Grundlage für Gesundheit, Muskelaufbau, hormonelle Stabilität und Heilung. Gerade für Kinder, Jugendliche, stillende oder schwangere Menschen, Kranke und ältere Menschen ist die Eiweißversorgung zentral.

Regale voller eingekochter Lebensmittel, darunter Hülsenfrüchte, Brühe und Fleisch

Die Illusion der Unabhängigkeit

Viele moderne Ernährungskonzepte setzen auf pflanzliches Eiweiß – und das aus gutem Grund. Weniger Tierleid, geringerer CO2-Ausstoß und wenn es bedacht geplant wird, kann es auch preisgünstiger sein. Doch als Selbstversorger:in in Mitteleuropa stößt man hier schnell an Grenzen. Sojaprodukte? Fast ausschließlich importiert. Linsen? Nur unter sehr günstigen Bedingungen und mit Erfahrung anbaubar. Erbsen und Bohnen? Ja – aber nicht in der Menge und Verfügbarkeit, die nötig wäre, um eine ganze Familie dauerhaft zu versorgen.

Was in Mitteleuropa wirklich geht

Erbsen, Ackerbohnen, Lupinen, Brennnesselsamen, Walnüsse, Haselnüsse – all das liefert pflanzliches Eiweiß. Aber der Anbau ist kleinteilig, arbeitsintensiv und stark saisonabhängig. Es braucht gute Lagerbedingungen, Schutz vor Schädlingen, viel Fläche und Zeit. Wer versucht, daraus eine vollständige, ausgewogene Eiweißversorgung für eine mehrköpfige Familie zu gestalten, merkt schnell: Es bleibt eine Herausforderung.

Erntekorb mit bunten Buschbohnen auf einem Holztisch

Die Rolle der Nutztiere – nicht als Industrieprodukt, sondern als Kreislaufwesen in der Selbstversorgung

Hühner, Ziegen, Schafe, Kaninchen und auch manchmal Kühe – Nutztiere sind keine „Rückkehr zur Vergangenheit“, sondern Teil einer zukunftsfähigen Lösung, wenn sie verantwortungsvoll gehalten werden. Sie fressen Reste, liefern Dünger, stabilisieren Gartenkreisläufe und: Sie liefern Eiweiß in Form von Eiern, Milch und – seltener – Fleisch.

Hühner und Hähne beim Fressen im grünen Auslaufbereich

Diese Tiere gehören nicht in Massentierhaltungsanlagen. Aber in vielen selbstversorgenden Haushalten sind sie Mitbewohner:innen im Kreislauf, keine Produktionsfaktoren. Ihre Haltung kann ethisch, liebevoll und nachhaltig sein. Besonders Hühner leisten Enormes – mit Küchenresten, Insekten, Beikräutern und Körnern verwandeln sie wenig in viel: Eiweiß, das jeden Tag frisch da ist.

Fleischkonsum – zwischen Tabu und Verantwortung

Ich esse Fleisch – aber sehr selten. Und wenn, dann mit einem tiefen Respekt vor dem Tier, das dafür gestorben ist. Für mich ist Fleisch kein Grundnahrungsmittel, sondern etwas Besonderes. Wenn wir schlachten, dann versuchen wir möglichst viel zu verwerten: Fleisch, Knochen, Fett. Ich muss ehrlich sein: Für den Umgang mit für mich eher unkonventionellen Teilen der Tiere, wie Innereien und Haut, fehlt mir viel Wissen. Zum Glück freuen sich unsere Geflügel über sehr vieles und verwandeln diese Produkte in Eier und Zufriedenheit. So wie es Generationen vor uns getan haben.

Wer tiefer in die ethischen Fragen rund um Tierhaltung einsteigen möchte, findet bei Faba Konzepte einen spannenden Faktencheck zu den gängigen Argumenten – kritisch, aber fundiert. Allerdings fehlt mir da die Bewertung für die praktische Umsetzbarkeit und Krisenfestigkeit für Selbstversorgende

Teller mit gegrilltem Fleischspieß, Grillkäse, Kartoffelgratin und grünem Salat

In der feministischen und linken Szene ist Fleischkonsum oft negativ besetzt – und das zurecht, wenn man an Tierleid, patriarchale Grillkultur und globale Ausbeutung denkt. Aber: Fleisch pauschal zu verteufeln greift zu kurz, wenn man über echte Ernährungssouveränität und Versorgungssicherheit spricht.

Denn in Krisenzeiten – wenn Transportwege zusammenbrechen, Supermärkte leer bleiben und Sojamilch nicht mehr im Regal steht – bleibt das, was du selbst anbauen, aufziehen oder erzeugen kannst. Und da wird Fleisch (im Kreislauf gedacht) plötzlich wieder sichtbar als Ressource – nicht als Konsumgut.

Eiweiß und Geschlechtergerechtigkeit – Care-Arbeit ernst nehmen

Der „Versorgergedanke“, wie er Männern zugeschrieben wird, bleibt oft abstrakt: Versorgung bedeutet dann Gehalt, Versicherung, vielleicht ein voller Kühlschrank. Doch wie Versorgung konkret im Alltag gestaltet wird – was eingekauft und gegessen wird, auch die Planung sodass die Ernährung auch noch kurz vor der nächsten Lohnauszahlung gut und gesund ist – liegt in der Realität oft bei Frauen. Dabei ist Versorgung Familiensache. Lebensmittelsicherheit ist Familiensache.

Wenn wir von Eiweiß sprechen, sprechen wir nicht nur über Nährstoffe – wir sprechen über Zuständigkeit, Sichtbarkeit und Handlungsmacht. Eiweiß steht für Kraft, Stabilität, Regeneration. Dass Frauen in der traditionellen Ernährungsgeschichte selten mit „Kraftnahrung“ verbunden wurden, ist kein Zufall. Ihre Arbeit blieb im Hintergrund – ob beim Einkochen, Füttern, Pflegen oder Verwerten.

Zwei Menschen sitzen eng umarmt auf einer Wiese, ein Schaf steht daneben

Verteilung der Versorgungsverantwortung

Früher bekamen Kinder zur Erntezeit schulfrei. Heute ist diese Arbeit in den Freizeitbereich verdrängt worden – als Hobby, nicht als Beitrag zur Versorgung. Dabei ist Selbstversorgung Arbeit. Genau wie Care-Arbeit Arbeit ist. Beide sind unsichtbar gemacht – und genau das müssen wir ändern.

Unabhängigkeit: Aufwertung durch Selbstversorgung

Gerade deshalb ist es ein feministischer Akt, sich die Eiweißversorgung bewusst und selbstbestimmt zurückzuholen. Wer weiß, wie man eine Henne hält, Hülsenfrüchte anbaut, Brühe zieht oder Milch verarbeitet, der muss nicht warten, bis andere liefern. Diese Fähigkeiten bedeuten Unabhängigkeit – und damit auch Schutz, Fürsorge und Freiheit. Für sich selbst. Für andere.

Ernährungssouveränität ist keine Spielerei. Sie ist Care-Arbeit mit politischer Dimension. Und sie ist weiblich geprägt – seit Jahrhunderten. Jetzt ist es Zeit, ihr endlich den Wert zu geben, den sie verdient.

Wer Eiweißversorgung in die eigene Hand nimmt, übt Macht aus – im besten Sinne. Macht über das eigene Leben, über Versorgung, über Gesundheit. Und ja, das bedeutet auch, sich mit unangenehmen Wahrheiten auseinanderzusetzen.

Eine davon ist: Ohne Nutztierhaltung wird Selbstversorgung in Mitteleuropa schwierig.

Mein Plädoyer: Nicht ideologisch, sondern ganzheitlich denken

Ich wünsche mir eine Debatte, die weniger moralisiert und mehr hinterfragt: Wie schaffen wir es, unseren Eiweißbedarf zu decken – saisonal, lokal, gerecht? Wie können Tiere Teil eines Kreislaufs sein, in dem sie nicht ausgebeutet, sondern geschätzt werden? Wie können wir pflanzliche Quellen fördern, ohne romantisch zu verklären, was nicht trägt?

Graue Schafe und weiße Gänse auf einer grünen Wiese am Waldrand

Ich glaube: Die Zukunft liegt in kleinen, resilienten Systemen. In Mischformen. In ehrlicher Auseinandersetzung und in der Fähigkeit, Fleisch weder zu verherrlichen noch zu verdammen – sondern es als das zu sehen, was es sein kann: eine Ressource mit Verantwortung.

Damit diese Sicht überhaupt eine Option bleibt, ist es nötig, Wissen wie ein heruntergeerbter Schatz zu hüten, zu pflegen und weiterzugeben. Nur wenn das Wissen um Haltung, Schlachtung, Haltbarmachung und Verarbeitung lebendig gehalten wird und zugänglich bleibt, können wir auch in instabilen Zeiten die Wahlfreiheit behalten, wie wir uns versorgen. Diese Wahlfreiheit ist ein hohes Gut – und sie verdient Schutz.

Zum Weiterlesen

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Was denkst du? Kannst du dir eine kleine Nutztierhaltung als Teil deiner Versorgung vorstellen – oder hast du ganz andere Wege gefunden, deinen Eiweißbedarf selbst zu decken? Ich freue mich über deine Gedanken in den Kommentaren oder per Nachricht. Lass uns dieses Thema gemeinsam weiterdenken – ohne Dogma, aber mit Haltung.

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