Vatertag und die Frage nach Männlichkeit
Über Männlichkeit, Rollenbilder, mentale Gesundheit und den Wunsch, es besser zu machen
Vorbemerkung:
Vor einigen Tagen wurde in meiner Stadt eine Frau durch ihren (Ex-)Partner getötet. Ein Femizid. Während ich an diesem Beitrag schreibe, bin ich erschüttert – und gleichzeitig überzeugt, dass wir genau jetzt über Männlichkeit sprechen müssen.
Dieser Text ist kein Kommentar zum konkreten Fall. Aber er ist eine Reaktion auf eine Realität, in der patriarchale Strukturen, Macht und Sprachlosigkeit tödlich enden können.

Mir ist bewusst, wie oft in solchen Fällen Täter-Opfer-Umkehr geschieht: Dass mehr über dem Täter gesprochen wird, nach einer Ursache in seiner persönlichen Begebenheiten gesucht wird, zum Einzeltäter gemacht wird – und zu selten über die systemische Gewalt, die Frauen erleben.
Wenn ich in diesem Text über Männlichkeit im Wandel schreibe, dann aus dem Wunsch heraus, Verantwortung zu stärken – nicht Schuld zu verteilen. Es braucht neue Wege, neue Vorbilder und Räume, in denen Männer ihre Verletzlichkeit leben dürfen, ohne Gewalt nach außen oder innen zu richten.
Ich wünsche mir, dass dieser Beitrag Mut macht – zum Zuhören, Hinterfragen, und vielleicht auch zum Neuanfangen.
Nun zum heutigen Thema:
„Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.“
„Indianerherz kennt keinen Schmerz.“
„Richtige Männer reden nicht. Sie machen.“
Diese Sätze hallen bis heute nach. Und auch wenn viele sie belächeln oder als überholt abtun – sie prägen. Oft tiefer, als uns lieb ist. Sie prägen das, was wir über „Männlichkeit“ denken. Darüber, wie ein Mann sein soll. Und was er besser nicht sein darf.
Gerade am Vatertag wird das sichtbar.
Himmelfahrt, Vatertag, Männertag – je nach Region verschieden genannt, aber oft ähnlich begangen:
Bollerwagen, Bier, Männer unter sich.
Eine Form von Gemeinschaft, ja. Aber auch ein Ritual, das meistens eines nicht ist: ein Raum für Ehrlichkeit, für Verletzlichkeit, für das, was drinnen brodelt.
Männlichkeit ohne Schwäche? Der Preis der Fassade
Die Genderforschung spricht längst von „plural masculinities“ – davon, dass es nicht die eine Männlichkeit gibt. Und doch hält sich das Bild des starken, unerschütterlichen Mannes. Der, der anpackt, der aushält und der, der durchzieht.
Was dabei oft übersehen wird:
Dieses Bild macht krank.
Denn wenn Stärke heißt, keine Schwäche zeigen zu dürfen,
wenn Unabhängigkeit heißt, keine Hilfe annehmen zu können,
wenn Belastbarkeit heißt, Überforderung nicht einmal zu spüren –
dann bleibt am Ende Einsamkeit.
Und genau das spiegelt sich auch in den Zahlen zur mentalen Gesundheit:
- Männer suchen seltener psychologische Unterstützung.
- Depressionen bleiben häufiger unerkannt – oder zeigen sich anders: in Gereiztheit, Aggression, Rückzug.
- Die Suizidraten bei Männern liegen deutlich über denen von Frauen, insbesondere in mittleren Jahren.
Es ist kein Mangel an Schmerz.
Es ist das Fehlen von Worten.

„Ich will es besser machen“ – der Anspruch, das Erbe zu durchbrechen
Viele Männer, die heute Väter sind, tragen einen tiefen Wunsch in sich:
Es besser machen als der eigene Vater.
Mehr da sein, mehr fühlen und mehr teilen.
Nicht der schweigende Versorger sein, nicht der Mann am Rand des Familienlebens.
Sie wollen Partner sein, auf Augenhöhe.
Nicht Helfer, sondern Teil der Fürsorge.
Aber was ist „besser“, wenn es keine Vorbilder dafür gibt?
Wenn das eigene Bild von Männlichkeit nur aus Schweigen, Härte oder Abwesenheit besteht?
Viele Männer stehen genau an diesem Punkt:
Sie haben den Anspruch – aber keine Karte.
Die alten Wege funktionieren nicht mehr.
Die neuen sind noch unbefestigt, unsicher, voller Stolperfallen.
Und während Frauen längst Räume geschaffen haben, um über Überlastung, Care-Arbeit und Mental Load zu sprechen, bleiben viele Männer stumm.
Nicht, weil sie nichts fühlen.
Sondern weil sie nicht wissen, wie sie es sagen sollen.

Ein Minenfeld aus alten Bildern und neuen Erwartungen
Was ist ein „guter Vater“ heute?
Präsent. Sensibel. Verantwortungsbewusst. Emotional zugänglich.
Aber bitte auch: stabil. Verlässlich. Belastbar.
Und nebenbei: berufstätig, engagiert, leistungsfähig.
Ein Spagat zwischen alten Rollenerwartungen und neuen Idealen.
Ein Tanz auf einem Feld, auf dem es kaum sichere Schritte gibt.
Viele Männer spüren den Druck, gleichberechtigt zu sein – und scheitern genau daran, weil die Strukturen sich kaum geändert haben:
- Arbeitgeber, die Teilzeit belächeln.
- Familien, die „die Frau“ als Hauptansprechperson erwarten.
- Gesellschaftliche Anerkennung für Care-Arbeit? Fehlanzeige.
- Wenig gelebte Beispiele für wirkliche Gleichberechtigung.
Dazu kommt das eigene Erbe:
Keine Sprache für Gefühle gelernt.
Keine Werkzeuge für Beziehungspflege mitgegeben bekommen.
Oft selbst verletzt durch emotionale Abwesenheit der Väter – und doch ohne Orientierung, wie es anders gehen könnte.

Wenn Gleichberechtigung zum Kampf wird – Geschlechterkonflikte im Alltag von Partnerschaften
Es klingt so leicht auf dem Papier: Gleichberechtigung.
Geteilte Care-Arbeit. Faire Aufteilung. Augenhöhe.
Und doch erleben viele Paare genau hier ihre größten Spannungen.
Denn auch, wenn beide es wollen – die Wege dahin sind selten frei.
Zu tief sitzt, was wir alle gelernt haben über „wer zuständig ist“.
Zu fest verwurzelt ist, was als „normal“ gilt.
Zu oft bleibt Care-Arbeit unsichtbar – und damit auch die Erschöpfung, die sie verursacht.
In vielen Ehen und Partnerschaften wird Gleichberechtigung nicht an den großen Fragen verhandelt,
sondern an den kleinen, alltäglichen Dingen:
- Wer denkt an den Zahnarzttermin?
- Wer organisiert den Kindergeburtstag?
- Wer packt die Tasche fürs Kita-Fest?
- Wer bemerkt, dass das Lieblingsstofftier fehlt, wenn es ins Wochenende mit den Großeltern geht?
Und selbst wenn die Aufgaben geteilt werden:
Oft bleibt das Denken, Planen, Koordinieren – das unsichtbare Kümmern – an einer Seite hängen.
Der ewige Teufelskreis
Viele Frauen berichten, dass sie müde sind vom Erklären, vom Bitten, vom Einfordern.
Viele Männer berichten, dass sie sich nicht gesehen fühlen in dem, was sie beitragen –
oder dass sie sich in einer Dauerschleife von Kritik und Rückzug wiederfinden.
Und so stehen sich oft zwei Menschen gegenüber, die beide eigentlich das Gleiche wollen:
Gerechtigkeit, Augenhöhe, Entlastung.
Aber sie ringen miteinander, weil das System, in dem sie leben, ihnen keine echten Vorbilder dafür liefert, wie das geht.
Weil Gleichberechtigung kein Zustand ist, sondern tägliches Aushandeln –
und weil genau dieses Aushandeln so verdammt viel Kraft kostet.
Manchmal so viel Kraft, dass es nicht als Dialog, sondern als Kampf geführt wird.
Ein Kampf, in dem es oft gar nicht um die Spülmaschine oder die vergessene Einladung geht –
sondern um das Gefühl: „Bin ich gesehen? Bin ich getragen? Bin ich nicht allein verantwortlich?“
Und so bleibt es häufig nicht bei einer Diskussion über Aufgabenverteilung.
Es wird ein Streit über Anerkennung. Über Wertschätzung. Über Rollenbilder, die in uns stecken,
auch wenn wir sie längst hinter uns lassen wollten.

Zwischen struktureller Macht und persönlicher Beziehung – der unsichtbare Groll
Auch wenn er sich bemüht.
Auch wenn er mehr übernimmt als sein eigener Vater je getan hat oder wenn er Windeln wechselt, Elterngeld beantragt, Care-Arbeit leisten will:
Die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern sind damit nicht verschwunden.
Und manchmal – vielleicht öfter, als wir es zugeben – nimmt die Frau dem Mann genau das übel:
Dass er trotz aller Mühe, trotz aller Beteiligung, trotz aller guten Absichten gesellschaftlich auf der machtvolleren Seite steht.
Dass er in einer Welt lebt, in der seine Karriere nicht automatisch durch Schwangerschaft unterbrochen wird.
Dass er sich nicht rechtfertigen muss, wenn er „nur Teilzeit arbeitet“ – oder dass er dafür sogar Anerkennung bekommt, wo Frauen oft Abwertung erfahren.
Dass es immer noch „besonders“ ist, wenn ein Vater Care-Arbeit übernimmt – und dass genau dieses „Besondere“ zeigt, wie ungleich das Spielfeld nach wie vor ist.
Diese Wut, dieser stille Schmerz:
„Du bist der Mensch, den ich liebe – und trotzdem bist du Teil eines Systems, das mich klein hält.“
Es ist schwer, diesen Gedanken zuzulassen.
Schwer, ihn auszusprechen, ohne zu verletzen.
Schwer, die eigene Verletzung sichtbar zu machen, ohne sie dem Menschen gegenüber als Schuld umzuhängen.
Aber die Wahrheit ist:
Auch wenn ein Mann sich auf den Weg macht, auch wenn er alles gibt – das Patriarchat macht es ihm leichter als ihr.
Und das ist manchmal kaum auszuhalten.
Nicht für sie. Und oft auch nicht für ihn.
Denn auch er merkt, dass da etwas zwischen ihnen steht, das nicht einfach durch „mehr helfen“ oder „besser kommunizieren“ aus der Welt geschafft werden kann.
Etwas, das größer ist als sie beide.
Das sie aber doch jeden Tag miteinander austragen müssen.

Foto von cottonbro studio
Zwischen Anspruch und Erschöpfung: Warum dieser Weg weh tut
Das Problem ist nicht der fehlende Wille.
Es ist das Fehlen von Wegen.
Das Fehlen von sicheren Räumen, in denen Unsicherheit ausgesprochen werden darf.
Viele Männer versuchen, alles zu geben – und bleiben doch mit dem Gefühl zurück, nicht zu genügen.
Zwischen den Stühlen:
Nicht mehr der „alte Mann“ – aber auch noch nicht sicher angekommen in einer neuen Rolle.
Weich, aber bitte nicht zu weich.
Verlässlich, aber bitte nicht bedürftig.
Reflektiert, aber bitte nicht überfordert.
Und so gehen viele Männer diesen Weg allein.
Zerreißen sich zwischen Ansprüchen, für die es keine Landkarte gibt.
Was es braucht: Räume zum Scheitern und Suchen
Was helfen würde?
Nicht der nächste Erziehungsratgeber.
Nicht die nächste Checkliste „Wie du ein guter Vater wirst.“
Was helfen würde, wären Räume, in denen gesagt werden darf:
„Ich will es anders machen. Aber ich weiß nicht wie.“
„Ich habe Angst, zu scheitern.“
„Ich habe Angst, nicht genug zu sein.“
Räume, in denen Männer nicht erst stark sein müssen, um darüber sprechen zu dürfen, dass sie schwach sind.
Wo Umwege okay sind, wo Ehrlichkeit okay ist und wo Verletzlichkeit nicht Mangel bedeutet.
Denn wer neue Wege geht, braucht keine perfekten Antworten.
Sondern Weggefährten.

Hilfreiche Ressourcen
- Väter gGmbH – Neue Wege für Väter
- Männerberatung bei der Caritas
- Väterzentrum Berlin
- Männergesundheitsportal der BZgA

Vielleicht magst du auch hier weiterlesen: Mein E-Book für stressfreie Feiertage und selbstfürsorgliches Vorbereiten
Gerade an Feiertagen, bei Einladungen, Familienfesten und Ausflügen zeigt sich oft besonders deutlich, wie stark uns alte Bilder und Erwartungen prägen – und wie schwer es fällt, eigene Grenzen zu achten.
In meinem E-Book
👉 „Vorbereiten & Genießen – Meal Prep für freie Tage“
lade ich dich ein, genau dort hinzuschauen:
Wie können Brunch, Picknick oder Feiertage gelingen, ohne dass du dich dabei selbst verlierst?
Wie geht das: Einladen, Mitbringen, Gastgeber:in sein – ohne Überforderung, ohne Selbstaufgabe?
Das E-Book enthält nicht nur einfache, vegetarische Rezepte zum Vorbereiten,
sondern auch Impulse für genau diese Fragen:
Wie kann ich achtsam bleiben, während ich für andere sorge?
Wie kann ich meine Bedürfnisse ernst nehmen – auch inmitten von Planung, Care-Arbeit und Erwartungen?
✨ Eine Einladung, es anders zu machen. Ohne Perfektionismus. Mit Mut zur Unperfektheit.
👉 Hier findest du mehr dazu: Link
Vielleicht ist das der Anfang eines Gesprächs

Ich habe diesen Text geschrieben, weil ich glaube, dass es Räume braucht, in denen wir ehrlich über all das sprechen können:
Über Erwartungen und Verletzungen. Über Ansprüche, an denen wir scheitern.
Über das, was wir voneinander brauchen – und das, was wir einander oft nicht geben können, obwohl wir es so sehr wollen.
Bevor ich diesen Text veröffentlicht habe, habe ich ihn meinem Mann zum Lesen gegeben.
Nicht, weil ich sicher war, dass alles stimmt, was ich schreibe.
Sondern weil ich wollte, dass er weiß, was ich denke.
Weil ich wissen wollte, was es mit ihm macht.
Vielleicht ist genau das ja ein möglicher nächster Schritt, auch für dich:
Diesen Text mit deinem Partner, deiner Partnerin zu teilen.
Zu fragen:
👉 Wie fühlt sich das für dich an?
👉 Erkennst du dich darin wieder?
👉 Wo tut es weh – und wo könnte ein Gespräch beginnen?
Denn Veränderung beginnt selten mit fertigen Antworten.
Sie beginnt oft mit einem Satz:
„Lass uns darüber reden.“
Mehr dazu:
Warum viele Männer am Anspruch scheitern, stark und souverän zu sein – und was es braucht, um Männlichkeit anders zu denken.
→ Männlichkeit im Umbruch: Warum Härte kein Zukunftsmodell ist
Wie erlebst du dieses Thema in deiner eigenen Beziehung? Gibt es etwas, das du deinem Gegenüber vielleicht noch nie so gesagt hast?
Wenn du von Gewalt betroffen bist oder jemanden kennst, der Hilfe braucht, findest du Unterstützung bei Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen ⟶ 08000 116 016.

Liebe Linn,
So gut und berührend geschrieben. Danke dafür